Teil 2 – Die große Versammlung
So, da bin ich wieder und erzähle euch wie die Geschichte weitergeht.
Als sie den Palast erreichten, versammelte sich das „Dunkle Volk“ in der großen Halle. Sie bildeten einen großen Kreis, in dessen Mitte „Schönbein“ und „Glanzhaar“ abgesetzt wurden. Verängstigt hielten sich die beiden eng umschlungen. „So, da haben wir also zwei Gäste“, sagte „Rattenfürst“. „Was machen wir denn nun mit euch?“ „Lasst uns sofort gehen“, forderte „Glanzhaar“. „Wir wollen nach Hause“, bat „Schönbein“. „Ich glaube ich habe eine bessere Idee“, antwortete „Rattenfürst“. „Ihr bleibt hier und morgen werden wir sehen, was ihr euren Leuten wert seid.“ „Das könnt ihr nicht machen“, beschwerten sich die beiden. Ungefähr die Hälfte der Zuschauer johlte vor Begeisterung und klatschte Beifall, die anderen, darunter „Blutrose“, blieben still.
„Oh doch“, grinste „Rattenfürst“. „Hartfels“, hol die Schnur die die Riesen zum Fische fangen benutzen“. „Hartfels“, einer der beiden „Steinernen“, die die Frauen gefangen hatten, machte sich auf und kam schnell mit einem großen Knäuel der gewünschten Schnur zurück. „Schneidet ein paar körperlange Seile aus dem Gewusel“, sagte „Rattenfürst“ und schnell machten sich zwei aus der Menge an die Arbeit.
„Bitte nicht, lasst uns frei“, baten „Schönbein“ und „Glanzhaar“. Aber sie wurden gepackt und zu zwei der zahlreichen Stützen des Palastdaches gezerrt. Die meisten waren aus Holz, aber einige auch aus dem Material der Riesen, das die Leute vom „Dunklen Volk“ im angrenzenden Park gefunden hatten. Mit den Schnüren wurden die beiden Gefangenen an je eine Stütze gebunden, so fest, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten.
„Ihr Grobiane, bindet uns sofort wieder los“, forderten die beiden. „Ihr redet zu viel“, antwortete „Rattenfürst“. Er bat „Tausendschön“, seine größte Verehrerin, um ein Stück Stoff. Die griff in ihren Rucksack und holte ein langes Halstuch heraus. Eigentlich war es ihr Lieblingshalstuch, aber für „Rattenfürst“ würde sie alles hergeben. Der zerriss das Tuch in zwei Hälften in zwei Hälften. Er ging zu „Schönbein“ und band ihr damit den Mund zu. „Nein, bitte nicht“, flehte „Glanzhaar“. Aber schon war auch ihr Mund verbunden. Alles was jetzt noch zu hören war ein leises „Hmmmpf“. „So ist es doch viel ruhiger“, meinte „Rattenfürst“ grinsend. „Morgen sehen wir weiter“.
Nach und nach löste sich die Versammlung auf und die meisten gingen zu ihren Wohnungen, die abgetrennt am Rande des großen Saales lagen. Nur „Hartfels“ blieb als Wächter zurück.
„Blutrose“ war an den Fluss gegangen um den Mondaufgang zu bewundern. Als der fast volle Mond ganz zu sehen war machte sie sich wieder auf den Weg in die Palasthalle. „Ich löse dich ab, ich kann eh nicht schlafen“, sagte sie zu „Hartfels“. „Klasse, das ist echt lieb von dir“, freute der sich und eilte zu seinem Bett. „Oh nein,“ dachten die beiden Gefangenen, „jetzt wird sie uns bestimmt piesacken und wir sind völlig hilflos. Wir hätten es mit ihr ja auch gemacht, bitte nicht zu doll“.
Aber „Blutrose“ setzte sich auf einen Hocker und wartete einfach ab. Nach einiger Zeit ging sie zum Eingang und rief „Die Luft ist rein“. Aus dem Dunkel der Nacht erschien „Flechthaar“. „Komm, wir schneiden die beiden los und lassen sie laufen“, sagte sie. Ein erstauntes „Hmmmmpf“ war von „Glanzhaar“ und „Schönbein“ zu hören. Damit hatten sie nicht gerechnet.
„Den Stofffetzen behaltet ihr noch bis wir draußen sind, ihr beiden redet echt manchmal zu viel“, meinte „Blutrose“ grinsend. „Hmmmpf“, war die zustimmende Antwort. Draußen angekommen befreiten sich die beiden von ihrem Knebel. „Danke euch“, sagte „Schönbein“. „Das war sehr lieb von dir“, sagte „Glanzhaar“ zu „Blutrose. „Begleitest du uns nach Hause, Flechthaar?“ „Nein, ich verbringe die Nacht mit meiner Freundin“, antwortete er. „Was? Sie?“ Die beiden waren sehr überrascht. Sie waren beide in „Flechthaar“ verliebt, er hatte aber kein Interesse an ihnen gezeigt. Alle vermuteten, dass er eine heimliche Freundin hatte. Und die war also „Blutrose“.
Sehr erleichtert, dass alles so glimpflich ausgegangen war, und etwas enttäuscht, das sie beide ihre Hoffnung auf „Flechthaar“ endgültig aufgeben konnten, gingen die beiden zu ihrer Wohnung. „Blutrose“ und „Flechthaar“ verschwanden Händchen haltend im Dunkel der Nacht.
Am nächsten Morgen entdeckte „Rattenfürst“ die Flucht der beiden. Wütend rief er „Hartfels“ herbei: „Wie konntest du die beiden entwischen lassen?“, tobte er. „Hab‘ ich gar nicht“, rechtfertigte der sich. „Blutrose“ hat mich abgelöst, du hättest mich ja die ganze Nacht nicht schlafen lassen. „Blutrose? Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ich berufe sofort eine Versammlung ein“, sagte „Rattenfürst“.
Es dauerte etwas, aber dann hatte sich das „Dunkle Volk“ in der Halle versammelt. „Rattenfürst“ begann: „Blutrose hat uns alle verraten und die Gefangenen befreit. Wie wollen wir sie dafür bestrafen?“ Ein Teil der Menge brüllten ihre Vorschläge in die Versammlung, am lautesten war „Tausendschön“: „Wir sollten sie selber festbinden und mit Brennnesseln streicheln!“ Ungefähr die Hälfte der Menge johlte vor Begeisterung, aber eine ebenso große Anzahl blieb still. „Ihr solltet euch erst einmal anhören, welche Gründe ich hatte“, sagte „Blutrose“ so laut, das es alle hören konnten.
„Ich habe gestern Abend noch mit „Weiser Weissbart“, „Flechthaar“ und ein paar anderen gesprochen…“ „Noch mal Verrat“, tobte „Rattenfürst“. „Nun lass mich bitte ausreden“, fuhr sie fort. „Du hast mit deiner Aktion gestern alle Regeln für die Nutzung der „Leckerwiese“ gebrochen. Und wir haben nicht die anderen verjagt, sondern sie uns. Ich habe die beiden freigelassen und dafür können wir in Zukunft die „Leckerwiese“ jeden Tag nutzen, abwechselnd morgens und abends, damit es keinen Ärger mit den anderen gibt.“
Jetzt kippte die Stimmung. Plötzlich klatschten fast alle Beifall: „Toll, „Blutrose“, damit ist ja alles wieder wie vorher, sogar noch besser für uns. Wenn einer eine Bestrafung verdient hat, dann wohl eher „Rattenfürst“, rief „Hartfels“ in die Menge. „Rattenfürst“ wurde rot vor Zorn: „Niemand hier bestraft mich, ich bin euer Anführer!“ „Wir brauchen keinen Anführer“, erwiderte „Blutrose. Fast alle klatschten laut Beifall, nur „Tausendschön“ und eine Handvoll anderer schwieg. „Wenn das so ist, werde ich euch verlassen“, brüllte der selbsternannte Anführer. „Wer wirklich zum „Dunklen Volk“ gehört, kommt mit mir! Und die Ratten nehme ich auch mit!“
„Dann geht, das ist vielleicht für uns alle am besten“, sagte „Blutrose“. „Rattenfürst“, „Tausendschön“ und eine Handvoll anderer machten sich auf um ihre Sachen zu packen. Zusammen mit den Ratten gingen sie zum Fluss, um auf drei oder vier der Flöße den Fluss hinab zu fahren. Die Flöße wurden von den kleinen Riesen gebaut und zu Wasser gelassen. Wenn sie sich dann später am Ufer verfingen, holte das „Dunkle Volk“ sie sich.
Und so machten sich „Rattenfürst“, die Ratten und seine verbliebenen Anhänger auf ihre Reise in Ungewisse.
Text: Michael Dodt, Zeichnungen: Manuela Tolksdorf