Das dunkle Volk

Teil 1 – Die Rauferei auf der „Leckerwiese“

Hallo, „Weiser Weissbart“ ist wieder da mit einer neuen Geschichte für euch. Diesmal handelt sie vom „Dunklen Volk“. Bevor ich beginne sie zu erzählen, möchte ich euch erstmal von der Entstehung des „Dunklen Volkes“ berichten:

Wie überall gibt es auch bei unseren Völkern immer ein paar Wesen, die etwas anders sind als die anderen. Im „Dunklen Volk“ haben sich einige von ihnen zusammengeschlossen und so eine neue Gemeinschaft gebildet. Viele von ihnen unterscheiden sich von uns, sind sehr nachdenklich, ziehen sich öfter mal zurück, lieben eher den Schatten als das Licht und den Mond als die Sonne.

Sie leben auf der anderen Seite des Flusses unter sich, in einem – wie sie sagen – Palast in den Brombeersträuchern. Die Decke ist aus einem Material der Riesen, das sie im angrenzenden Park gefunden haben. So sind sie vor Wind und Regen geschützt. Bis vor kurzem hatten sie wie alle anderen Gruppen des „Kleinen Volkes“ keine richtigen Anführer, aber das hat sich jetzt geändert. Einer von ihnen, „Rattenfürst“, gewinnt immer mehr an Einfluss und viele des „Dunklen Volkes“ folgen seinen Entscheidungen.

„Rattenfürst“ ist der Zwillingsbruder von „Flechthaar“, der später ebenfalls in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen wird. Er hat durch Essensreste der Riesen die Gunst von vier Ratten gewonnen, auf denen er und drei der anderen auch reiten können. Unter den Ratten herrscht eine strenge Rangordnung, so werden die schwächsten immer zum probieren von Futter ausgeschickt. Es könnte ja von den Riesen vergiftet worden sein. Diese vier gehörten zu den Testern, und alle anderen Ratten konnten auf ihnen herumhacken. So fiel es „Rattenfürst“ leicht, sie an sich zu gewöhnen und abzurichten.

So, nun aber zu der Geschichte: Vor ein paar Tagen kam „Schleckermaul“, ein junger Mann von uns, ganz aufgeregt zu mir: „Weiser Weissbart“, du musst uns helfen. Wir haben auf der „Leckerwiese“ Früchte vom Boden aufgesammelt, als plötzlich eine große Gruppe vom „Dunklen Volk“ auftauchte. Vier von ihnen ritten auf Ratten und sie haben uns von der Wiese gescheucht. Gegen sie und ihre Ratten hatten wir keine Chance.“ „Haben sie euch verprügelt?“ wollte ich wissen. „Nein, wir sind schnell genug abgehauen“, antwortete „Schleckermaul“. „Dann gehen wir zu „Flechthaar“, der kann uns helfen“, sagte ich.

„Flechthaar“ gehört zu den „Die auf Fröschen und Molchen reiten“, er selber fliegt gelegentlich auf einem Habichtmännchen, mit dem er sich angefreundet hat, durch die Luft. Er ist größer als die meisten von uns und hat sein Haar mit Wasserpflanzen zu vielen kleinen Zöpfen geflochten. Obwohl er echt groß ist muss es ein Habichtmännchen sein, denn die sind viel kleiner als die Weibchen. So ein Weibchen wäre selbst für ihn zu groß.

Nachdem wir ihm von dem Streit auf der „Leckerwiese“ berichtet hatten sagte er: „Ihr trommelt so viele von uns zusammen wie ihr könnt, ich gehe „Scharfkralle“, meinen Habichtfreund, rufen. Mit ihm werden wir das „Dunkle Volk“ und die Ratten schon vertreiben.“

Eigentlich nutzen wir und das „Dunkle Volk“ die Früchte der „Leckerwiese“ beide, auch wenn wir uns dabei aus dem Weg gehen. Dort gibt es Pflaumen, Kirschen, Birnen, Äpfel und Sanddorn.

Aber verjagen konnten wir uns nicht gefallen lassen. Also versammelten wir möglichst viele vom Kleinen Volk, bis auch schon „Flechthaar“ auf seinem Habicht eintraf. Als wir auf der „Leckerwiese“ ankamen waren fast alle des „Dunklen Volkes“ mit dem aufsammeln und zerteilen der heruntergefallenen Früchte beschäftigt. Am Rand bewachten „Rattenfürst“ und drei andere auf den Ratten die Arbeit. Als sie uns entdeckten rief er: „Na, habt ihr noch nicht genug? Dann zeigen wir es euch jetzt richtig!“

Aber schon kam „Flechthaar“ auf „Scharfkralle“ angeflogen und die Ratten quiekten laut vor Schreck: „Oh nein, nicht unser Erzfeind“. Sie warfen ihre Reiter ab, bis auf „Rattenfürst“, der sich auf seiner Ratte halten konnte. Alle stürmten in panischer Flucht in Richtung Brombeerberg, um über den Fluss zu ihrem Palast zu gelangen. Die anderen des „Dunklen Volkes“ hatten ohne ihre Reiter den Mut verloren und folgten ihnen.

Wir jubelten laut: „Das habt ihr nun davon“ und verfolgten die Fliehenden bis zum Fuß des Brombeerberges. Mit dabei waren auch „Schönbein“ und „Glanzhaar“, die „Blutrose“ unter den Früchtesammlern entdeckt hatten. Früher waren die drei beste Freundinnen gewesen, aber dann hatten sie sich auseinandergelebt, weil sie anders als die beiden immer nachdenklicher wurde und oft für sich alleine sein wollte. Um ihr Leben auf ihre eigene Art zu leben war sie dann zum „Dunklen Volk“ gezogen.

„Komm, lass uns unserer alten Freundin eine kleine Abreibung verpassen“, sagte „Schönbein“ zu „Glanzhaar“. „Blutrose“ mit ihrem langen, leuchtenden Haaren in der Farbe des Sanddorns stach deutlich unter den anderen Fliehenden hervor. Die beiden hatten sie schon fast erreicht, als die Flüchtende im Dickicht am Fuße des Brombeerberges verschwand. Dort hinein konnten sie nicht auf Frosch und Molch reiten, aber sie machten sich zu Fuß an die Verfolgung.

Eilig rannten die beiden durch das Unterholz und konnten die Verfolgte schon fast schon berühren. Doch plötzlich wurden sie von zwei ehemaligen „Steinernen“ gepackt, die sie übersehen hatten. Die waren viel stärker als sie und warfen sich die wild zappelnden Frauen einfach über die Schulter und schleppten sie davon. „Hey, sofort los lassen, das könnt ihr nicht machen“, rief „Schönbein“. „Aua, du tust mir weh“, beschwerte sich „Glanzhaar“, aber ihre beiden Entführer kannten kein Erbarmen.

Sie trugen ihre Gefangenen über den „Brombeerberg“ zum Fluss und überquerten ihn auf einer Holzbrücke, die die letzten Flüchtenden hinter sich auf ihre Seite des Flusses zogen, damit ihnen niemand weiter folgen konnte. Allerdings hatte keiner von uns die Absicht dazu, denn alle bis auf „Schönbein“ und „Glanzhaar“ hatten die Verfolgung am Fuße des Brombeerberges eingestellt.

Als sie den Palast erreichten versammelte sich das „Dunkle Volk“ in der großen Halle.

Anmerkung „Weiser Weissbart“: So, nun müssen wir eine Pause machen, die Geschichte wird sonst zu lang. Wie es weitergeht, erfahrt ihr demnächst.

Text: Michael Dodt, Zeichnungen: Manuela Tolksdorf