Es ist mal wieder soweit, ich, „Weiser Weißbart“, habe eine neue Geschichte für euch. Sie begann vor ein paar Tagen. Der Gesang von „Feine Feder“, einem Rotkehlchen, hatte sich plötzlich verändert. Die Riesen lieben die Lieder dieser Singvögel, aber wir vom „Kleinen Volk“ verstehen sie auch. In das typische: „Hier ist mein Revier, haltet bloß Abstand“ mischte sich ein schrillerer Ton: „Hilfe, Hilfe“.
Ich machte mich auf den Weg, um der Sache auf den Grund zu gehen. „Feine Feder“ saß im dichtesten Geäst eines Baumes im Mittelpunkt ihres Reviers. „Was ist denn los?“, fragte ich. „Oh, ein Sperber hat es auf mich abgesehen“, antwortete sie. „Naja, das ist zwar gefährlich für dich, aber Sperber jagen doch alle kleinen Singvögel.“ „Stimmt schon, nur diesmal ist es persönlich.“
„Wieso das denn?“, wollte ich wissen. „Naja, ich glaube ich habe es etwas übertrieben“, kam die Antwort. „Vor zwei Tagen hat ein Sperber mich gejagt, aber ich konnte mich in diesen Baum retten. Hier kommt er nicht rein, dafür ist er zu groß. Dann habe ich ihn verspottet als unfähigen Jäger, großen Tollpatsch und dazu noch ein paar andere Beleidigungen“, gab „Feine Feder“ kleinlaut zu. „Hmm, das war nicht sehr schlau von dir.“ Normalerweise gibt ein Sperber die Jagd nach einem Misserfolg auf und sucht sich eine andere Beute. „Jetzt lauert mir auf und greift mich an, sobald ich den Baum verlasse. Ich habe seitdem nichts mehr gegessen.“
„Nun, ich werde sehen was ich für dich tun kann“, sagte ich. Zuerst bat ich „Kieselgrund“, einen der „Steinernen“, einen fetten Regenwurm zu erbeuten und ihn dem hungernden Rotkehlchen zu bringen. Die „Steinernen“ sind zwar nicht größer als die anderen vom „Kleinen Volk“, aber viel stärker. Mich könnte ein dicker Regenwurm, der länger als ich ist, in einige Schwierigkeiten bringen. Danach überlegte ich mir eine Lösung für das Problem von „Feine Feder“.
Ein Sperber hat eigentlich nur einen echten Feind, den Habicht. Der sieht zwar aus wie sein großer Bruder, macht aber gerne Jagd auf seinen kleineren Verwandten. Dann fielen mir die „Die in der Luft schweben“ ein, eines unserer Völker (das bereits in der Geschichte „Die Bienenkönigin“ eine wichtige Rolle spielte). Sie lieben Musik und Tanz und stellen sehr feine Musikinstrumente her. Ich machte mich auf zu ihrem Baum, wo sie im dichten Gewirr der Äste in runden Nestern wohnen. Die erste, die ich dort entdeckte, war „Vierflügel“. Anders als die meisten anderen ihrer Art hat sie vier statt zwei Flügel, wie auch die Libellen.
„Guten Morgen meine Schöne“, begann ich sehr höflich. So vergnügt, wie sie in der Luft herumtanzte, brauchte ich nicht zu fragen wie es ihr ging. „Ich störe dich nur ungern, aber ich hätte da eine Bitte.“ Ich erzählte ihr von dem Problem des Rotkehlchens und von meiner Idee, eine Flöte zu bauen, die genau wie der Schrei des Habichts klang. „Hmmm, das klingt nach einer sehr interessanten Aufgabe“, meinte „Vierflügel“. „Das mache ich echt gerne, aber ich werde mindestens einen ganzen Tag dafür brauchen.“ „Vielen Dank schon mal, gib mir einfach Bescheid, wenn Du sie fertig hast.“
Ich berichtete „Feine Feder“ von dem Gespräch, die sehr erleichtert war, und machte mich dann auf den Weg nach Hause, um in aller Ruhe einen Tee und ein Pfeifchen zu genießen. Als ich am nächsten Morgen noch nichts von der Geflügelten gehört hatte, bat ich „Kieselgrund“, noch einen Regenwurm für das Rotkehlchen zu besorgen. Gegen Mittag tauchte „Vierflügel“ bei mir auf. „Da ist die Flöte, das war viel Arbeit, aber es hat auch echt Spaß gemacht, so eine Herausforderung zu meistern“, sagte sie stolz lächelnd. „Ich danke dir sehr“, antwortete ich. „Dann probiere ich sie mal aus“. Und tatsächlich, die Flöte klang genau wie der Schrei des Habichts. „Phantastische Arbeit“, lobte ich die Künstlerin.
Mit einem breiten Grinsen flog sie davon. Ich suchte noch zwei kurze, geflochtene Bänder zusammen und machte mich dann auf den Weg zum Rotkehlchen. „Feine Feder“ hockte noch immer im Schutz ihres Baumes. „Sieh mal, was ich für dich habe“, sagte ich. Dann blies ich in die Flöte und sie zuckte vor Schreck zusammen. „Wow, das klingt echt wie der Habicht“, jubelte sie. „Aber wie soll ich sie immer bei mir haben, ich habe ja keine Hände wie du?“
„Auch daran habe ich gedacht“, antwortete ich und zeigte ihr die Bänder. „Damit können wir die Flöte an eine deiner Zehen binden und du hast sie immer bei dir.“ Also machte ich mich ans Werk und sie blies noch einmal in die Flöte. Dann startete sie, um zu testen wie es sich mit der Flöte so fliegen ließ. Nach ein paar Runden landete sie wieder vor mir. „Toll, ich kann genauso gut fliegen wie vorher, die Flöte behindert mich überhaupt nicht“, freute sich „Feine Feder“.
Zufrieden mit der Lösung des Problems machte ich mich auf den Weg nach Hause. Aber nicht alle waren glückliches glücklich über die künstlichen Habichtschreie, vor allem die Tauben und Eichhörnchen, die auch auf dem Speiseplan des Habichts standen, waren verärgert von dem ständigen Zusammenzucken, wenn der vermeintliche Raubvogel rief.
Ein paar Tage später hatten sich alle wieder beruhigt, denn der Sperber hatte seine Lauer auf das Rotkehlchen aufgegeben und „Feine Feder“ musste die die Flöte nicht mehr so oft benutzen. So, das war’s, bis zum nächsten Mal mit einer neuen Geschichte.
Text: Michael Dodt, Zeichnungen: Manuela Tolksdorf