Der verträumte Kranich

Ich, „Weiser Weißbart“, habe wieder eine neue Geschichte für euch. Es geschah im letzten Herbst, die Jahreszeit, die wir vom Kleinen Volk auch die Zeit der bunten Blätter nennen. Es wurde schon langsam dunkel, als plötzlich ein sehr großer Vogel recht dicht über mich hinweg flog. Er schien auf der Leckerwiese landen zu wollen. Kurz danach hörte ich seine lauten Rufe. „Oh nein, ich habe die anderen verloren. Was soll ich denn jetzt hier ganz alleine machen?“

Ich ging dem Klang seiner Stimme nach und fand ihn mitten zwischen den Obstbäumen. „Nicht erschrecken, ich bin’s nur,  „Weiser Weißbart“ aus dem Clan „Die in den Bäumen leben“, sagte ich. Ein bisschen erschrak er doch, dabei war er so groß wie zehn von uns. „Oh, da unten bist du. Ich bin „Traumtänzer“, ein junger Kranich“, stellte er sich vor. „Und was machst du hier so ganz alleine?“, wollte ich wissen.

„Oh, das ist eine traurige Geschichte“, antwortete er. „Ich war mit meiner Familie und vielen anderen Kranichen auf dem Weg in unser Winterquartier. Aber dann habe mich von einer Schar Graugänse ablenken lassen, die ganz viel schnatterten und ich bin sehr neugierig. Als ich dann wieder zu den anderen wollte, waren sie schon weg. Also habe ich mir diesen Landeplatz gesucht, denn ich mag nicht alleine im Dunkeln fliegen.“

„Ach, aber so schlimm ist das doch nicht. Dann wartest du bis zum Sonnenaufgang und fliegst den anderen nach“; versuchte ich ihm Mut zu machen. „Aber ich kenne den Weg nicht, es mein erstes Mal. Ich weiß, wir fliegen nach den Kraftlinien der Erde, dem Stand der Sonne und der Sterne oder der Landschaft unter uns. Aber ich habe noch keine Ahnung wie das genau geht, das muss ich erst noch von den Älteren lernen.“

Ich überlegte kurz. „Na gut, dann fliegst du morgen mit den ersten Kranichen, die vorbei kommen, weiter.“ „Ich weiß nicht, mit lauter Fremden“, quengelte „Traumtänzer“. „Nun schlaf erst mal“, antwortete ich. „Morgen früh sehen wir weiter.“ „Na gut“, stimmte er mir zu. Er steckte den Kopf zwischen seine Federn und ich machte mich auf den Weg zu meinem Bett.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, regnete es und es wehte ein starker Wind. Nach einem leckeren Frühstück und einer Tasse Tee machte ich mich auf den Weg  zu „Traumtänzer“. „Na, hast du gut geschlafen“, fragte ich ihn. „Es ging so“, kam zur Antwort. „Aber ich habe schon ein paar Schnecken und Regenwürmer zum Frühstück gefressen. Bei dem starken Wind aus der falschen Richtung  können wir nicht fliegen, es werden also auch keine anderen Kraniche vorbei kommen. Was soll ich denn jetzt machen?“

„Warte mal ab, uns fällt schon etwas ein. Wie sieht es denn dort aus, wo ihr die kalte Jahreszeit verbringt?“, wollte ich wissen. „Ich war ja noch nie da, aber die anderen erzählten von vielen Eichen, steinbedeckten Hügeln, Reisfeldern und viel Wasser. Und es gibt dort ganz wenig von denen, die ihr Riesen und wir „Viel-zu-viele“  nennen. Und es ist dort viel wärmer als in unserem Sommerquartier.“

„Hast du denn schon einmal mit den Riesen zu tun gehabt?“, fragte ich ihn. „Au ja, schau dir die Ringe um meine Beine an. Sie haben mich und meine Schwester „Naseweis“ eingefangen, als wir noch nicht fliegen konnten. Unsere Eltern sind weggeflogen, wir zwei haben uns versteckt. Aber sie haben uns erwischt und diese Ringe um unsere Beine gemacht. Am linken Bein bei uns beiden  rot-schwarz-rot, am rechten bei mir nur schwarz. Meine Schwester hat am rechten Bein blau-rot-orange. Es hat nicht wehgetan, aber wozu das gut sein soll wissen nur die „Viel-zu-viele.“

Tja, das konnte ich mir auch nicht erklären, aber die Riesen machten viele merkwürdige Dinge. Leider wehte der Wind noch mehrere Tage recht stark, also nutzten wir die Zeit, um uns Geschichten zu erzählen. „Traumtänzer“ berichtete vom Land seiner Geburt, wo es viele Seen und wenig Riesen gab. Aber dafür Bären, Wölfe, Elche und viele andere Tiere, die es hier gar nicht oder nur ganz selten gab. Aber er wurde immer unruhiger, je länger der starke Wind anhielt. Dann fiel mir etwas ein.

Ich wusste von einem Ort hier ganz in der Nähe, wo seit einigen kalten Jahreszeiten die Kraniche nicht mehr wegflogen. Hier war es die letzten Jahre meistens warm genug, so dass sie hier bleiben konnten. Ich erzählte ihm davon und er überlegte kurz. „Das klingt gut, aber wie soll ich den finden“; wollte er wissen. „Hmm, ich könnte auf deinem Rücken mitfliegen, aber für einen vom Kleinen Volk dauert der Rückweg ewig“, antwortete ich. Dann fiel mir „Fliegt gern weit“, die Kanadagans ein. „Ich weiß da jemand, der dir den Weg zeigen kann und der schnell wieder hier ist.“

Ich hatte sie erst heute Morgen gesehen, am Libellenteich, wo sie uns manchmal besuchte. Jetzt war es auch für sie zu windig, um weiter zu fliegen. Ich machte mich auf den Weg zu ihr und erzählte ihr von „Traumtänzers“ Problem. „Klar, sobald der Wind etwas nachlässt, kann ich ihm den Weg zeigen“, sagte sie. „Das mache sogar sehr gerne, ich bin noch nie mit einem Kranich geflogen.“

„Traumtänzer“ war auch begeistert und so machten sie sich ein paar Tage später auf den Weg. So, das war’s mal wieder bis bald mit einer neuen Geschichte.

Illustrationen: Manuela Tolksdorf, Text. Michael Dodt