So, da bin ich wieder, „Weiser Weißbart“ mit einer neuen Geschichte für euch. Ich wollte mich gerade zu einem Mittagsschläfchen hinlegen, als ein helles Glöckchen ertönte. Es war überall in unserer Siedlung zu hören. Diese Musik kündigte die Ankunft der „Reisenden“ an, eines ganz besonderen Clans des „Kleinen Volkes“. Sie reisen auf den kurzen Wegen um die ganze Welt, immer dem Sommer nach.
Die kurzen Wege sind eigentlich Tore, durch die wir mit unserer Begabung von einem Ort ganz schnell zu einem anderen reisen können. Die „Reisenden“ sind sehr braungebrannt, da sie immer der Sonne nach reisen, die meisten von ihnen schlank, zumindest solange sie jung sind. Je älter sie sind, desto dicker werden auch ihre Bäuche. Sie betrachten das als schön und Zeichen von Wohlstand.
Da sie um die ganze Welt reisen, ist ihr Besuch eine große Sache. Sie bringen uns Dinge aus Gegenden, in die wir nie kommen. Dazu neue, fremdartige und spannende Geschichten, exotische Musik, Speisen und Getränke. So ungefähr alle 24 Monde besuchen sie unsere Siedlung, wenn die Musik ertönt, sind sie gerade durch das Tor gekommen. Jetzt dauert es noch so um die zwei Stunden, bis sie bei uns eintreffen.
Überall brach hektisches Treiben aus. Jeder suchte Dinge, die er bei den Reisenden gegen ihre Mitbringsel eintauschen wollte. Außerdem wurde gekocht, gebacken und Getränke abgefüllt, denn dieses Ereignis wurde mit einem großen Fest gefeiert, das meistens bis zum frühen Morgen dauerte. Tische und Bänke wurden aufgestellt, ein freier Platz zum Tanzen vorbereitet und eine Bühne aufgebaut.
Wir waren noch mitten in den Vorbereitungen, als die Reisenden mit ihren bunt bemalten Wagen eintrafen. Gezogen wurden sie von Borstengürteltieren, die zwar nicht sehr schnell aber stark und ausdauernd waren. Es gab ein lautes Hallo, viele Umarmungen und Küsschen zur Begrüßung. Am meisten Aufsehen erregte „Naseweis“, der früher einmal bei uns gewohnt hatte. Er gehörte zum Clan „Die auf Fröschen und Molchen reiten“, jetzt aber ritt er auf einem Tier wie es keiner von uns jemals zuvor gesehen hatte. Es war dreimal so lang wie wir groß, hatte riesige Augen, lange Beine und war leuchtend grün. „Das ist ein Namaqua-Chamäleon“, erklärte „Naseweis“ stolz. „Es kommt aus einem sehr weit entferntem Land.“
Die mutigsten von uns berührten sein Reittier behutsam, die Haut war ledrig aber auch sehr weich. Das Chamäleon schien die Streicheleinheiten zu genießen. „Es ist nicht sehr schnell aber sehr angenehm zu reiten“, ergänzte „Naseweis“. „Fast wie ein tiefes in sich gehen.“ „Schönbein“ und „Glanzhaar“ drängelten sich zu ihm durch. „Dürfen wir es auch mal reiten?“, baten sie ihn mit einem Augenaufschlag. „Aber gerne, wenn „Langzunge“ nichts dagegen hat.“ Er hatte nicht und die beiden kletterten mit leuchtenden Augen auf seinen Rücken. Lange dauerte das Vergnügen aber nicht, denn trotz aller Exotik war er den beiden zu langweilig.
Dann begann das große Tauschgeschäft. Überall wurde gefeilscht und verhandelt, mit großen Gesten aber auch viel Gelächter. Ich erstand für eine meiner selbstgeschnitzten Pfeifen ein Flöten ähnliches Musikinstrument aus dem Land des Chamäleons, „Bienentänzer“ tauschte seinen Honig gegen eine exotische Frucht, die Cherimoya hieß. Sie war so groß wie er und ihr gelbes Fruchtfleisch schmeckte sehr frisch und süß.
Nachdem viele Waren ihren Besitzer gewechselt hatten, wurde es Zeit für das Festessen. Die Tische bogen sich unter der Last der süßen und salzigen Speisen, auch viele verschiedene Getränke standen bereit. „Die Reisenden“ und wir saßen bunt gemischt auf den Bänken und ließen uns die vielen Köstlichkeiten schmecken. Auch die Borstengürteltiere wurden mit vielen Leckereien bedacht.
Plötzlich wurde es mir gegenüber laut. „Glanzhaar“ stritt sich mit einem der „Reisenden“. „Du hast den ganzen Kuchen alleine gegessen, das ist nicht sehr nett von dir!“ „“Wie soll ich das denn gemacht haben, der war doch viel zu groß?“, war die Antwort. „Weiß ich doch nicht, aber eben war er noch da und jetzt ist der ganze Teller leer!“
Auch an anderen Tischen entbrannten Streitereien, weil überall große Portionen süßer Speisen plötzlich verschwanden. Die fröhliche Stimmung kippte so langsam, statt Gelächter gab es immer mehr Gezänk. Ich stand auf und stellte mich etwas abseits hin, um aus einiger Entfernung alles zu beobachten. Aber ich konnte nichts entdecken, außer das eben noch volle Teller und Schalen mit Süßspeisen plötzlich leer waren. Das merkwürdige daran war, keiner von uns konnte solche Portionen so schnell verdrücken.
Gab es hier etwa einen unsichtbaren Dieb? „Ich glaube ich habe eine Idee, was hier vorgeht.“ Flechthaar stand plötzlich neben mir. „Schau mal nur auf das Chamäleon.“ Ich konnte das Chamäleon nicht entdecken. „Wo ist es denn?“, wollte ich wissen. „Da vor der großen Buche“, sagte „Flechthaar“ grinsend. Ich kniff die Augen zusammen. Tatsächlich! Aus dem Baum heraus schnellte eine lange Zunge, griff sich einen halben Kuchen und verschwand wieder im Baum. „Wie ist das möglich?“, wollte ich wissen. „Das Chamäleon kann seine Hautfarbe an seine Umgebung anpassen, deswegen sieht es jetzt aus wie die Rinde der Buche. Das hat mir „Naseweis“ erzählt.“
Wir machten uns auf den Weg zu dem „Reisenden“. „Magst du dein Reittier etwas weiter weg führen, wir bringen ihm auch genug zu essen“, bat ich ihn. „Sonst artet der Streit hier noch aus.“ „Aber sicher“, antwortete der „Naseweis“ etwas zerknirscht. „Es tut mir echt leid, eigentlich fressen seine Artgenossen Insekten und kleine Reptilien, aber „Langzunge“ isst am liebsten alles was süß ist.“
Nachdem wir für das Chamäleon abseits des Festes einen Platz gefunden hatten, entspannte sich die Stimmung wieder. Auch „Langzunge“ war zufrieden, denn vor ihm stand eine Riesenschale mit süßen Leckereien. Bald danach spielten die Musiker zum Tanz auf, und wir feierten zusammen bis zum Sonnenaufgang. So, das war’s für dieses Mal, bis bald mit einer neuen Geschichte.
Text: Michael Dodt, Illustration Manuela Tolksdorf