Der verlassene Kaninchenbau

Da bin ich wieder, „Weiser Weißbart“,  mit einer neuen Geschichte für euch. Wie ihr bestimmt noch wisst, unterrichte ich bei uns oft die Kinder vom Kleinen Volk.  Anders als bei euch Riesen haben wir keine Schulen, der Unterricht findet bei uns draußen in der Natur statt. Dort können unsere Kinder alles sehen, riechen, hören, schmecken und  berühren. Wenn es zu doll regnet oder zu kalt ist, erzähle ich in meinem Baum Geschichten, zu denen die Kinder viele Fragen stellen. So lernen sie auch dazu.

Vor ein paar Tagen wollte ich eigentlich ich den Kleinen die Mauersegler zeigen, Vögel ähnlich wie die Schwalben, die fast ihr ganzes Leben fliegend verbringen. Aber dann kam alles ganz anders. Als ich ankam standen schon alles in einer großen Gruppe zusammen und redeten aufgeregt durch einander. „Was ist denn los?“, wollte ich wissen. „Ich war bis gestern mit meiner Mutter bei Verwandten zu Besuch, die ganz weit weg in einem großem Park leben“, plapperte „Viele Zöpfe“, ein Mädchen aus dem Clan „Die auf Fröschen und Molchen reiten“, aufgeregt los. Dort gab es ganz viele Tiere, die ich hier noch nie gesehen habe. Meine Mama sagte, das sind Kaninchen.“

„Ja, die gab es früher auch hier, aber das ist schon lange her. Da wart ihr alle noch nicht geboren“, sagte ich. „Aber die sind so niedlich“, fuhr „Viele Zöpfe“  fort. „Sie tobten auf einer großen Wiese umher, Erwachsene und Junge alle miteinander. Dann fing plötzlich einer an mit den hinteren Beinen zu trommeln und kurz danach waren alle plötzlich zwischen Büschen und Sträuchern verschwunden. Sie hatten eine Katze entdeckt, die versuchte sich anzuschleichen.“ „Das Trommeln ist ein Warnzeichen, dann verstecken sie sich in ihrem Bau“, erklärte ich den Kindern.

„Aber kurz danach waren alle schon wieder auf der Wiese“; fuhr das Mädchen fort. „Dann stieß eines von ihnen einen ganz schrillen, langgezogenen Schrei aus. Und ganz schnell waren alle wieder verschwunden. Ein Habicht schoss über den Rasen, aber er kam zu spät.“  „Tatsächlich haben die Kaninchen viele Feinde, Katzen, Greifvögel wie der Habicht, aber auch Füchse und Hunde. Daher müssen sie ständig wachsam sein“, sagte ich. „Wir können uns jetzt einen alten Bau von ihnen ansehen, er ist nicht weit von hier entfernt.“

„Auja“, freuten sich die Kinder. „Schade, dass es sie hier nicht mehr gibt“, kam von „Viele Zöpfe“. Die sind so süß, eines von ihnen hat mich sogar kurz auf sich reiten lassen.“ „Wollen wir denn jetzt los?“, warf ich ein. „Auja“, kam es ein zweites Mal und dann marschierten wir tatsächlich los.

Der Kaninchenbau war nicht weit entfernt. Vor dem Eingang war ein großer Erdhaufen zu sehen. „Wenn die Hoppler ihren Bau graben bewegen sie ganz viel Erde, die liegt hier“, erklärte ich den Kindern. Der Eingang war wirklich sehr hoch und breit, mehr als fünfmal so groß wie wir vom Kleinen Volk. Der Gang dahinter war sehr lang, wurde mit der Zeit aber immer schmaler. Wir zündeten unsere Fackeln an, denn hier drinnen war es stockdunkel. Nach einem ordentlichen Marsch erreichten wir eine große Höhle. „Hier wohnten die Kaninchen, es war genug Platz für alle. Hier haben sie sich zusammen gekuschelt, geschlafen und sich gegenseitig ihr Fell geputzt“; erklärte ich. „Das ist ja echt riesig hier“, staunten die Kinder.

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„Aber es gibt noch viel mehr zu entdecken“, sagte ich. „Kommt mit.“ Wir gingen zum Rand der großen Höhle,  wo es viele kleinere Höhlen gab. Im Gegensatz zur Großen lag hier noch altes Laub, Fellbüschel und Stroh herum. „Hier haben sie ihre Jungen geboren, ganz nackt und blind für die erste Zeit“, fuhr ich fort. „Deshalb auch das ganze Zeug, damit die Babys es warm und gemütlich hatten. Auf dem Weg nach draußen nehmen wir einen anderen Tunnel, dann erfahrt ihr noch etwas mehr über die Kaninchen.“

Ich führte unsere Schar zu einem anderen Tunnel, der viel schmaler und niedriger war. Für uns immer noch recht groß, aber gerade so hoch und breit, das ein Kaninchen gut durchpasste. Am Ende schien plötzlich das Tageslicht von oben auf uns herab. „Nun wird es sportlich, wir klettern jetzt da hoch“, sagte ich. „Hurrah“, jubelten die Kinder und schnell ging es steil nach oben.

Wir kamen unter einem Strauch oben an, alle etwas schmutzig von der Kraxelei. „Jetzt verstehe ich auch, wie die Kaninchen so schnell auf der Flucht verschwinden konnten“; stellte „Viele Zöpfe“  fest. „Sie mussten sich ja nur in den Eingang plumpsen lassen. Ganz schön schlau von ihnen. Und warum gibt es sie hier bei uns nicht mehr?“, wollte sie wissen. „Bei ihnen hatte sich eine schwere Krankheit ausgebreitet, die ihre Augen zu schwellen  ließ. Bei so vielen Kranken konnten wir auch mit unserer Gabe nicht helfen.“

„Wie schade“, kam von den Kindern. „Aber denen von „Viele Zöpfe“ geht es ja gut.“ „Genauso ist es, die Welt der Natur ist in einem ständigem Wandel“, schloss ich. „Das war’s für heute mit dem Unterricht, habt alle noch einen schönen Tag!“

Für mich wurde es jetzt Zeit für einen gemütlichen Tee und bis bald mit einer neuen Geschichte.

Zeichnungen: Manuela Bigl, Text: Michael Dodt